Diese Besprechung erscheint zeitgleich auf Englisch und Italienisch
Marco Bellochio ist mit seiner sechsteiligen Miniserie „Und draußen die Nacht“ über die fünfundfünfzig Tage zwischen der Entführung und der Ermordung Aldo Moros ein beachtliches Stück Fernsehen gelungen. Mit der Entscheidung, diesen so komplexen und von unzähligen Theorien, Verschwörungserzählungen und Mikrogeschichten durchzogenen Stoff auf sechs Folgen auszuwalzen, unterscheidet sich „Und draußen die Nacht“ erfreulich von anderen Versuchen, von denen „Die Affäre Aldo Moro“ (mit dem Silbernen Bär der Berlinale 1987 für Gian Maria Volonté) als gelungener Spielfilm zu nennen ist.


Entlang des gesicherten Wissens gibt Bellochio gerade den vermeintlichen Nebenfiguren den Platz, der nötig ist, um die Komplexität dieser italienischen Tragödie darstellen zu können. Daniela Marra als Brigadistin Adriana Faranda ist wunderbar besetzt, genauso gut wie Margherita Buy (Eleonora Moro/Chiavarelli). Darüber hinaus kostet Bellochio bewusst die künstlerische Freiheit aus und füllt hier und dort für ihn wichtige Lücken mit alternativen Verläufen: Was wäre, wenn Moro aus dem Volksgefängnis in der Via Gradoli freigelassen worden wäre? Die eiskalten Blicke, derer Moro und Giulio Andreotti sich im fiktiven Krankenhausbesuch würdigen, öffnen den Raum zu einer produktiven Spekulation darüber, wie dieses Italien politisch weitermachen kann nach diesem existenziellen Vertrauensbruch zwischen Moro und seiner christdemokratischen Partei. Beim Fernsehen phantasiert der schwerkranke Papst Paul VI. (Toni Servillo, wie immer vom Besten) von einer Prozession der Democrazia Cristiana, bei der Moro das Kreuz und damit die Sünden der politischen Klasse trägt. Entweder zur Buße oder zum Empfinden des Leids der Passion Moro lässt sich Paul einen metallenen, blutige Wunden hinterlassenen, Bußgürtel anlegen. Die Inszenierung von Widerstand und Konfrontation kommunistischer Bewegung und die zusehende Isolation der Roten Brigaden in der gesamten italienischen Linken, ob gemäßigt oder radikal, wirkt authentisch und nicht kostümiert – was man bei weitem nicht oft bei der Darstellung des politischen Klimas in den späten 1970ern in Film und Fernsehen konstatieren darf.


Bei allen alternativen Verläufen vermeidet die Serie jedoch glücklicherweise das Abtauchen in die schier nicht erfassbare Fülle an „Cui bono“-Erzählungen, die in den vergangenen 45 Jahren nicht mehr, sondern ehrlicherweise weniger zur Klärung beigetragen haben. Welche Rolle spielen CIA, KGB, die Tschechoslowaken?1 War die RAF bei der Entführung am Tatort2 und beinhalteten die damals schon Jahrzehnte alten als Interventionsvorbehalte zu verstehenden Planspiele3 der USA die Ermordung von Politikern zentristischer staatstragender Charaktere? Auf solche Spielereien lässt sich Bellochio genauso wenig ein, wie er Andreotti („Beelzebub“, Paolo Sorrentinos „Il Divo“) und „den Amerikanern“ Raum zur Erschaffung eines Abziehbildes böser Mächte gewährt.
Viel interessanter als das „Cui bono“ ist, warum die Democrazia Cristiana nicht alles möglich gemacht hat, um Moro freizubekommen4, wo es doch von Unmengen an verfügbarem Lösegeld aus vatikanischen Quellen wohl auch das Zeitfenster gab, in dem die Roten Brigaden nicht mehr wussten, was sie mit Moro anfangen sollten – der sich persönlich kaum als die Inkarnation eines alles Schlechten eignete.
Moro mag tragisch danebengelegen haben mit seiner Vorstellung, Westeuropas stärkste Kommunistische Partei ließe ohne erheblichen Widerstand machtpolitisch in italienische Regierungsverantwortung einbauen und damit auch benutzen. Mit seiner Enttäuschung und seinem Zorn seinen Parteifreunden gegenüber sprach er hingegen politische Prophetie:
Wenn ihr nicht eingreift, könnte eine erschreckende Seite in der Geschichte Italiens geschrieben werden. Mein Blut würde über euch kommen, über die Partei, über das Land5
Ganz anders als nach der Schleyer-Entführung in der Bundesrepublik, hat der Mord an Moro Italiens politisches System nachhaltig verändert. Nach Moro „war die Linke am Ende“6 – und nicht eben nur die Brigate Rosse – , aber eben auch die Christdemokratische Partei. Hatten diese sich bis zur Wende in Machtstrukturen einbetoniert (Andreotti und der Sozialist Craxi als Ministerpräsidenten, Cossiga als Staatspräsident), so zerbröselten sie nach 1990 durch den Zusammenbruch des Ostblocks (Kommunistische Partei) oder durch Korruptionsskandale (Sozialisten/Christdemokraten) und nahmen das gesamte politische System mit. Die Mafiamorde an Paolo Borsellino und Giovanni Falcone sowie die Gründung der Forza Italia markieren das Ende der Ersten Republik, die bereits mit den Schüssen am 9. Mai 1978 in den Kofferraum eines roten Renault 4 tödlich verwundet wurde.
„Und draußen die Nacht“ erzählt von diesem Trauma, was bis heute trotz Wahrheitskommission nicht abschließend aufgearbeitet wurde. Mit dem Format der Miniserie ist es Bellochio gelungen, sich dem Komplex angemessen zu nähern, ohne sich in ermüdende Details zu verlieren oder mit Verschwörungstheorien aufzuhalten.
Eine klare Empfehlung. 4 von 5 Kaffeetassen.
„Und draußen die Nacht“, Buch und Regie: Marco Bellochio, 6 Folgen, deutsch, französisch, Original (Italienisch) mit frz. UT. In der arte-Mediathek bis 12. Juli 2023.
Dazu exemplarisch: Regine Igel, “Linksterrorismus
fremdgesteuert? Die Kooperation von RAF, Roten Brigaden, CIA und KGB”, Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 52, 2007, S. 1221-1235, online: https://zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/igel0710_0.pdf
Ferdinando Imposimato, “I 55 giorno che hanno cambiato l’Italia. Perché Aldo Moro doveva morire? La storia vera.” (ebook), Roma, 2013, pp. 66-80.
Ronald D. Landa, "Shots from a Luce Cannon: Combating Communism in Italy, 1953-1956”, Historical Office of the Office of the Secretary of Defense, Washington D.C, 2012; declassifed online: https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/intelligence/2017-02-07/cia-covert-aid-italy-averaged-5-million-annually-late-1940s
Federica Matteoni, “Die unbequeme Geisel”, in: jungle world, 16/2018, https://jungle.world/artikel/2018/16/die-unbequeme-geisel
Brief Aldo Moros an den Sekretär der DC Benigno Zaccagnini vom 20. April 1978, in der Edition: Aldo Moro, “Lettere dalla prigionia.”, A cura di Miguel Gotor, Torino, 2018, pp. 70-74.
Marco Damilano, “Un atomo di verità. Aldo Moro e la fine della politica in Italia.” (ebook), Milano, 2018, pp. 198-201.